Samstag, 15. September 2018

{Rezension} Nordland - Hamburg 2059 - Freiheit

Hamburg im Jahr 2059. Die Bundesrepublik ist Geschichte. Die nördlichen Bundesländer haben sich zu „Nordland“ zusammengeschlossen, einem Staat, in dem allein das Geld regiert. Politiker, Richter, Frauen – in Nordlands Hauptstadt Hamburg ist alles käuflich. Als ein Mann aus dem heruntergekommenen Schanzenviertel für ein Verbrechen hingerichtet wird, das er nicht begangen hat, regt sich ein lang vergessener Widerstand. Lillith, die zu den reichen Birds gehört, sympathisiert mit den Rebellen. Sie ahnt, dass mehr hinter dem Aufstand steckt. Aber Nordland ist ein gefährlicher Ort für Frauen, die das bestehende System hinterfragen. Die Männer an der Spitze räumen jeden aus dem Weg, der das fragile Gleichgewicht des Landes bedroht. Und Lilliths Vater ist nicht dafür bekannt, Ausnahmen zu machen …

Figuren
Zugegebenermaßen habe ich ganz am Anfang nicht erwartet, dass ich so eine große Sympathie für Lilith entwickeln würde, da sie auf den ersten Seiten eher wie das verhätschelte Vögelchen im Goldenen Käfig herüberkommt. Dass dies nicht der Fall ist, beweist die Autorin allerdings sehr früh. Lilith ist zwar die Tochter eines sehr reichen und mächtigen Mannes in Nordland, doch spielen Herz und Grips für sie eine größere Rolle. Zudem besitzt sie eine besondere Gabe: Sie ist hochsensibel, was heißt, dass sie Gefühle anderer lesen kann, was schon fast Gedankenlesen gleichkommt. Durch das ganze Buch hinweg macht sie eine sehr faszinierende Entwicklung durch, wie ich sie mir auch für sie gewünscht habe. Sie emanzipiert sich nicht nur, sondern stemmt sich auch gegen alle möglichen aufkommenden Widerstände.
Der männliche Hauptcharakter in „Nordland“ ist Bo. Er ist die leitende Figur der Rebellion der Unterdrückten und unglaublich reif und willensstark für sein Alter und vor allem die Umstände, unter denen er aufgewachsen ist und leben musste. Zwar hat auch er so seine Macken und Kanten, doch differenziert ihn gerade das für mich von den typischen männlichen Hauptcharakteren, auf die man sonst so oft in Dystopien trifft.

Schreibstil
Gabriele Albers schreibt ohne viel Drumherum und Belanglosigkeiten und fügt ihren Schreibstil damit perfekt in die trostlose und zerrüttete Welt von Nordland ein, schenkt all dem Terror und der scheinbaren Aussichtslosigkeit aber gleichzeitig auch eine Menge Leben.
Mit jedem gelesenen Satz bin ich immer mehr und mehr in einen wahren Lesesog geraten, während sich die Spannung immer weiter gesteigert hat, ohne mich jedoch mit zu viel Action zu bombardieren. Ich kann es einfach nicht anders beschreiben, als so, dass die Autorin eine ganz eigene Stimmung in ihren Worten mitschwingen lässt und so all den Zorn und die Verzweiflung der Bevölkerung und Figuren dauerhaft fühlbar macht.


Inhalt
Wir schreiben das Jahr 2059. Vor 25 Jahren wurde ein Pakt in Hamburg, nun „Nordland“ geschlossen, welcher besagt, dass die sogenannte Elite (also mächtige Geschäftsinhaber) das Land voranbringen soll und man sich nicht gegenseitig untereinander schaden darf. Aber wie sagt man so schön? „Nicht alles was glänzt, ist auch aus Gold“. Während die Reichen immer reicher werden und sich in ihren abgesicherten Anwesen das Leben hübsch machen, versumpft der Rest der Bevölkerung in Armut, Hunger und Krankheiten. Hat man kein Geld, hat man auch keine Bewegungsfreiheit. Abgeschoben in Ghettos und das Niemandsland und unterdrückt von den Menschen, die sie eigentlich beschützen sollten, fristen alle anderen ein tristes Dasein. Die Elite, von den Unterdrückten nur „Birds“ genannt, hat Nordland außerdem in viele kleine Bezirke eingeteilt; Gewissermaßen Herrschaftsgebiete, wenn man es so nennen will. Altertümliche, mittelalterliche Ansichten haben sich unter den Birds wieder eingestellt.- Frauen haben nur hübsch auszusehen, wer quer schießt, wird öffentlich hingerichtet, und Diskriminierung steht ebenfalls an der Tagesordnung. Im völligen Kontrast dazu steht die hochmoderne Technik, mit der sich jeder Bird 24/7 umgibt.
Lilith scheint die Einzige zu sein, die es für nötig hält, zu hinterfragen.- Das nicht zuletzt, weil sie die Augen vor dem Leid der Bevölkerung nicht völlig verschließen kann. Zusätzlich stößt sie auf viele Ungereimtheiten, Lücken in der Geschichte und Gründung Nordlands und entdeckt auch, dass die Menschen früher ganz andere Ideale hatten. Selbstverständlich beginnt sie, Fragen zu stellen. Warum der Schritt zurück?
Während eines Überfalls gerät Lilith an Halloween unter die Rebellen und bekommt endlich Antworten, die ihr „oben“ verwehrt wurden. Sie lernt den großen Gegensatz zu ihrem Leben kennen und erfährt Geheimnisse, die mächtige Männer verborgen halten wollen.
Da die Rebellen nicht besonders gut auf die Birds zu sprechen sind, da diese immerhin an der verzweifelten Lage des Landes schuld sind, gibt sich Lillith als das Dienstmädchen Lilly aus und beginnt, Bo und seinen Verbündeten zu helfen. Dass sich zwischen den beiden etwas entwickelt, scheint vorhersehbar und es ist auch tatsächlich so, dass sie sich näherkommen, doch steht die ganze „Liebesstory“ (wenn man das denn überhaupt so nennen will) nicht wirklich im Vordergrund. Sie ist eher schmückendes Beiwerk. Viel mehr Aufmerksamkeit bekommen in diesem Buch die Politik und die darüber geführten organisatorischen Diskussionen und die daraus resultierenden Aktionen. Ich kann mir vorstellen, dass der ein oder andere hier manche Szenen für zu trocken halten könnte, auch, wenn das für mich nicht der Fall war. 
Der Handlungsstrang selbst ist eigentlich relativ simpel gehalten, geradlinig mit verhältnismäßig wenig Abwegen. Die Autorin hat allerdings penibel ein sehr durchdachtes Hintergrundnetz drumherum gespannt und gibt dem ganzen Buch damit starke Substanz und Material, mit dem man wahrscheinlich zehn Bücher füllen könnte. Nicht zuletzt dadurch hat sich „Nordland“ für mich auch immer wieder wie eine hoch pessimistische aber durchaus reale Zukunft für Deutschland angefühlt. An einigen Ecken sicherlich überspitzt, das Grundprinzip halte ich aber (leider) für durchaus denkbar.
Auch das Ende dieses Buches punktet bei mir noch einmal in Sachen Durchdachtheit und Kreativität und ich bin mehr als zufrieden mit dem Ausgang, weil er sich einfach abhebt von dem, was man sonst so auf den letzten Seiten einer Dystopie erwarten würde und damit noch einmal beweist, dass Gabriele Albers hier alles andere als eine 08/15-Story geschaffen hat.

"Glaubt immer daran, dass wir unser Leben verändern können. Realität ist, was wir als real akzeptieren."
Seite 243

"Deine Gefühle sind wertvoll, selbst wenn sie wehtun. Sie erinnern dich daran, dass du ein Mensch bist. [...]"
Seite 269

Sie war es leid, sich auf die Männer in ihrer Umgebung zu verlassen. Wenn man sie brauchte, verschwanden sie schneller in der Versenkung als eine Kakerlake hinter dem Kühlschrank.
Seite 555

Sie fühlte sich wie ein Kanarienvogel, dessen Käfigtür man vergessen hatte zu schließen, und der sich nicht entscheiden konnte zwischen dem vertrauten Raum mit dem gefüllten Futternapf und der unbekannten weiten Welt.
Würden ihre Flügel sie tragen?
Seite 631

Für mich ein Buch, das in die dystopische Hall of Fame gehört. Clever, spannend und mit viel Hingabe geschrieben.
7/7
ISBN: 9783862825493
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